Ungleiche Zwillinge

In der Humangenetik wird das Phänomen dieser besonderen Geschwister "Diskordante Downsyndrom-Zwillinge" genannt. Genetisch "diskordant" bedeutet "ungleich", das heißt, die Zwillinge können ein unterschiedliches Geschlecht haben, unterschiedliche Blutgruppen - oder auch unterschiedlich viele Chromosomen.

Auf das Thema der Diskordanten Downsyndrom-Zwillinge (kurz DDS) bin ich zufällig im Internet gestoßen über die Website der Universität Saarbrücken, die 2015 eine Studie zu diesen besonderen Geschwistern publiziert hat. Ich nahm Kontakt auf und bat den Studienleiter darum, mir ein solches Geschwisterpaar zu vermitteln. Mehr als 20 Familien meldeten sich, mit Zwillingen im Alter von drei bis 27 Jahren. Es folgten viele interessante Gespräche und berührende Begegnungen – noch vor Corona – und viele Eltern berichteten ähnliches: Auf Zwillinge waren sie vorbereitet, aber nicht darauf, dass eines der Kinder eine Behinderung hatte. Fast alle sorgen sich darum, den unterschiedlichen Bedürfnissen ihrer besonderen Zwillinge nicht gerecht werden zu können. Sie fürchten, eines der beiden könnte zu kurz kommen, durch die Maschen fallen.

Die Zwillingsgeschwister selbst sehen zwischen sich meist gar nicht so große Unterschiede. Magdalena sagt über ihren Bruder Benjamin: „Ich hab ihn nie so als Kind mit Downsyndrom gesehen, ich hab auch nie das Typische gesehen, was Downsyndrom-Kinder so an sich haben. Das hab ich nie gesehen, das sehe ich auch heute noch nicht.“ Anders als Geschwister mit Altersunterschied bestehen DDS-Zwillinge darauf, auch exakt gleich behandelt zu werden. Sie sind sehr sensibilisiert dafür, wenn andere Menschen, manchmal sogar die eigenen Eltern, Unterschiede machen. Vor allem der nicht behinderte Zwilling glaubt oft, sehr genau zu wissen, was der Zwilling mit Downsyndrom leisten kann, und fordert dies auch ohne Umschweife ein. „Das Downsyndrom ist kein Grund, aus der Reihe zu tanzen“, sagt Victoria nach der Theaterprobe, als ihre Schwester mal wieder ihren eigenen Kopf durchsetzen will. „Ich kenne Eli am längsten und am besten, ich kannte sie schon im Mutterleib, ich habe mein ganzes Leben mit ihr verbracht!“

Für die Geschichte von Elisabeth und Victoria haben wir uns entschieden, weil die beiden damals vor einem entscheidenden Schritt im Leben standen: Wie wird es nach der Schule weiter gehen? Pläne hatten sie, aber würde auch alles so eintreffen? Das wusste damals niemand. Für mich als Filmemacherin war es ein Glücksfall, die Zwillinge auf dieser Reise ins Ungewisse mit der Kamera begleiten zu können. Doch nach unserem ersten Drehtag kam im April 2020 der erste Lockdown und plötzlich stand alles still. Elisabeth musste einen Tag vor unseren geplanten Aufnahmen ihr Praktikum im Supermarkt abbrechen, Victoria wusste anfangs nicht einmal, ob sie überhaupt ihr Abitur machen konnte. Viele Monate konnten wir nicht filmen. Im Sommer ging es endlich weiter, genau rechtzeitig zu Victorias Abiturzeugnisübergabe. Wie die beiden trotz Corona und all den damit verbundenen Unwägbarkeiten ihre Zukunftspläne verwirklicht haben, finde ich bewundernswert.  

Auch Benjamin und Magdalena erleben gerade eine Umbruchszeit. Früher wich Magdalena keine Sekunde von der Seite ihres Bruders, immer hatte sie das Bedürfnis, ihn zu schützen. Doch nun ist sie 14 und versucht, sich zu lösen von dieser großen Verantwortung, die sie sich als Kleinkind schon selbst auferlegt hat – gegen den Willen ihrer Eltern, die sie immer ermutigten, mehr auf sich selbst zu achten. Vor der Kamera spricht sie sehr offen und reflektiert über ihre ambivalenten Gefühle. Ein Highlight unserer Dreharbeiten war für mich der Nachmittag im Berliner Tiergarten: Mit der Kamera beobachten wir, wie die Zwillinge alleine, ohne Eltern, miteinander umgehen: Sie lachen zusammen, streiten und versöhnen sich wieder – so wie alle Geschwister mit und ohne Behinderung.