Die letzten guten Tage

Bei einem unserer regelmäßigen Treffen erzählt mir meine Kindheitsfreundin, dass sie seit einiger Zeit bei der Versorgung ihrer krebskranken Mutter hilft, die nicht mehr lange zu leben hat. Ich bin überrascht, da die Freundin immer große Berührungsängste mit Tod und Krankheiten hatte. Als ich sie frage, wie sie sich so überwinden konnte erzählt sie mir, dass es da eine ganz großartige Palliativärztin gäbe, die ihr nach und nach die Angst genommen habe. In den nächsten Wochen erzählt sie viel von dieser Ärztin, auch noch nach dem Tod ihrer Mutter.

Ich werde neugierig, möchte verstehen wie Palliativärzt*innen arbeiten, wie es für sie ist, nicht mehr heilen zu können und bei jeder Patientin, jedem Patienten zu wissen, dass diese sterben müssen. Was es mit ihrem Leben macht, täglich mit dem Tod konfrontiert zu sein.

Ein halbes Jahr später frage ich meine Freundin, ob es für in Ordnung wäre, dass ich die Ärztin anschreibe und sie ist einverstanden.

Schon der erste Kontakt mit Dr. Sabine Drengenberg ist herzlich und direkt. Sie sagt, das Beste sei, ich würde erst einmal ein paar Tage ohne Team bei ihr mitlaufen, dann könnten wir das weitere besprechen. Im Sommer 2020 begleite ich sie einige Tage, lerne sie und einige ihrer Patient*innen und Angehörigen kennen. Ich bin beeindruckt davon, mit wieviel Fröhlichkeit sie unterwegs ist, wieviel sie mit den sterbenskranken Menschen, die sie betreut, lacht und scherzt und wie sehr sie in den schweren Momenten für sie da ist.

Beeindruckt bin ich auch von den Menschen, die sie betreut: Von Eckart und seiner Frau Karin, von Karlheinz und seiner Frau Petra, von Christel und ihrer Tochter Astrid und von Gerlinde, die zusagen, sich von der Kamera begleiten zu lassen in dem Wissen, dass sehr schwere Tage auf sie warten. Ihnen gilt mein großer Dank für ihre Offenheit und ihr Vertrauen.

Nicht alle Menschen können bis an ihr Lebensende zu Hause versorgt werden, manche von ihnen entscheiden sich für einen Aufenthalt auf einer Palliativstation eines Krankenhauses. Dr. Philipp von Trott leitet eine dieser Stationen im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin. Er ist erst 40, hat drei kleine Kinder und steht mitten im Leben. Gleichzeitig gehört der Tod - auch der sehr junger Menschen - zu seinem Berufsalltag. Er sieht seine Aufgabe unter anderem darin, den Erkrankten die Angst vor dem Tod zu nehmen, seine Patient*innen und ihre Angehörigen dabei zu helfen, ihn nicht als Strafe, als Scheitern zu sehen.

Im August 2020 beginnen wir mit den Dreharbeiten. Wenige Wochen darauf stirbt Eckart, der Sabine - und auch uns - ans Herz gewachsen war. Auch wenn das Loslassen zu ihrem Beruf gehört, vermisst sie manche ihrer Patient*innen noch Monate später sehr.

Im November erhält unser Teammitglied, Frank Gautier, die Nachricht, dass seine Mutter gestorben ist. Wir sind gerade auf dem Weg zu der 85jährigen Christel, die im Sterben liegt. Christel und ihre Tochter Astrid kennen uns inzwischen gut und sind einverstanden, dass wir Sabine bei ihrem Besuch bei ihnen mit der Kamera begleiten. Frank möchte nach einer Pause mit uns weiterdrehen. Christel zu sehen, hilft ihm den Tod der Mutter zu begreifen. Am nächsten Tag ist Christel tot. Wieder dürfen wir Sabine begleiten. Sie ist sichtlich traurig und gleichzeitig dankbar, dass Christel so friedlich gehen durfte. Auch ihre Tochter Astrid ist gefasst, hat ihre Mutter liebevoll hergerichtet und ihr frischgepflückte Blumen in die Hände gelegt. Den Tod so nah zu erleben, nimmt uns als Filmende mehr mit als gedacht. Aber die Ruhe und Selbstverständlichkeit der Ärztin nimmt der Situation den Schrecken. Da ist jemand, die sich mit dem Sterben auskennt, die weiß, was zu tun und was zu sagen ist. Das gibt den Kranken und ihren Angehörigen eine große Sicherheit.

Diese Sicherheit wissen auch Philipp von Trott und sein großes interdisziplinäres Team zu vermitteln. Auch Philipp begleitet manche Patient*innen über einen längeren Zeitraum. Nicht am Stück, da die Aufenthaltsdauer auf einer Palliativstation begrenzt ist. Aber einige Erkrankte kommen immer wieder ins Krankenhaus und versterben auch auf der Station. Einer von ihnen ist der 38jährige Ron. Obwohl es ihm schon sehr schlecht geht, möchte er uns ein Interview geben und sich von der Kamera begleiten lassen. Er fühlt sich auf der Station so gut versorgt und will andere Erkrankte bestärken, das Angebot wahrzunehmen. Schon nach der recht kurzen Begegnung wirkt Rons Tapferkeit und Klarheit nach. Sein Tod einige Tage später nimmt die ganze Station sehr mit.

Eine weitere Patientin, Marie-Anne, die lange von ihrer Tochter Kerstin betreut wurde, stirbt noch bevor sie in ein Hospiz umziehen kann. Ihr und ihrer Tochter musste Philipp einige Tage vorher mitteilen, dass eine Chemotherapie nicht mehr möglich ist, da Marie-Anne schon zu geschwächt ist, eines von vielen schweren Gesprächen, die zu Philipps Arbeit gehören. Er ist immer wieder auch Ansprechpartner für die Angehörigen, für ihre Fragen, Ängste, ihre Verzweiflung und ihren Schmerz. Und er ist manchmal damit konfrontiert, dass Menschen sterben, die im gleichen Alter, in der gleichen Lebenssituation sind wie er. Wie schafft man es da „berührbar zu bleiben und trotzdem nachts schlafen zu können“, wie es ein Palliativmediziner formulierte?

Ein wichtiger Ausgleich ist Philipps Familie, seine drei lebhaften Kinder und seine Frau, mit der er über seine Arbeit sprechen kann. Auch Sabine betont, wie wichtig es ist, an den Abenden und Wochenenden mit ihren erwachsenen Kindern im Garten zu sein, rumzualbern, zu spielen und die Arbeit für eine Weile zu vergessen. Beide Ärzt*innen lachen viel und gerne und bringen mit ihrem Humor viel Freude in die Krankenzimmer, denn wie Philipp sagte: Auch die Kranken denken nicht 24 Stunden daran, dass sie sterben müssen, sie haben viele andere Themen und viele von ihnen haben auch noch in ihren letzten Tagen eine Menge Humor.

Im November stirbt die Mutter des Tonmannes Frank Gautier, während unserer Dreharbeiten im Dezember stirbt die Mutter der Redakteurin Brigitte Klos und im September nach der Sprachaufnahme für den Film fällt der Lebensgefährte meiner Mutter neben mir tot um. Dass der Tod zum Leben dazugehört, das hören wir immer wieder und doch verdrängen wir ihn, sind wir nicht wirklich auf ihn vorbereitet. Umso wichtiger ist die Arbeit von Sabine und Philipp. Das ist meine Erfahrung.