Bloß nicht krank werden

Ich sprach über ein Jahr mit Betroffenen ohne Krankenkasse, doch zunächst wollte keiner von ihnen den Schritt in die Öffentlichkeit wagen. Die meisten lebten schon seit Jahren ohne Versicherungsschutz oder waren wegen Schulden bei der Kasse im Notlagentarif gelandet. Während die erste Gruppe keinen Arzt mehr aufsuchen konnte, weil sie ihn sich als Selbstzahlende nicht mehr leisten konnten, durfte die zweite wenigstens im akuten Notfall ärztliche Versorgung in Anspruch nehmen. Insgesamt fiel es allen schwer, Hilfe zu suchen, denn sie schämten sich, ohne Krankenkasse dazustehen. Viele von ihnen waren selbstständig gewesen, einst erfolgreich und privat versichert, bis das Geschäft in eine finanzielle Schieflage geriet und sie Insolvenz anmelden mussten.

In Deutschland ist es Pflicht, krankenversichert zu sein. Warum die Zahl der Nichtversicherten dennoch hoch ist, hat die unterschiedlichsten Gründe: Beiträge können nicht mehr gezahlt werden oder es kommt wegen Fehlern bei der Abrechnung, dem Verdacht auf Betrug oder der Nichteinhaltung von Formalitäten zur Kündigung.

Ich habe EU-Bürger*innen getroffen, die in Deutschland in prekären Arbeitsverhältnissen steckten und damit nicht ausreichend krankenversichert waren, sowie papierlose Menschen, die ohne legalen Aufenthaltstitel hier lebten und deshalb keine Krankenversicherung haben konnten und Wohnungslose, die keine Krankenversicherung hatten.

Wenn das statistische Bundesamt von 61.000 Menschen ohne Krankenkasse spricht (Stand 2019), dann ist die Gruppe der Papierlosen und in prekären Arbeitsbedingungen steckenden EU-Bürger*innen nicht enthalten Auch Wohnungslose finden sich nicht unter der Zahl wieder und auch die nicht, die zwar noch versichert sind, aber durch den Notlagentarif nur unzureichenden Zugang zu ärztlicher Versorgung haben. Würde man sie alle mit dazurechnen, schätzen Sozialverbände die Zahl sogar auf über eine Million.

Ob Menschen ohne Krankenkasse oder Betroffene im Notfalltarif – beide Gruppen vereint, dass sie Krankheiten, Schmerzen und Zahnprobleme sehr, sehr lange ertragen, ohne einen Arzt aufzusuchen. Finden sie dann eine ehrenamtliche Stelle, die ihnen unentgeltlich hilft, ist ihr Leiden oft schon chronisch geworden und viel schlimmer, als es hätte sein müssen.

Eigentlich wurde der Notlagentarif in der privaten Krankenkasse deshalb ins Leben gerufen, weil der Gesetzgeber Betroffenen mit Beitragsschulden helfen wollte, bei akuter Erkrankung, bei akuten Schmerzen und Schwangerschaft wenigstens die geringsten medizinischen Leistungen zu gewährleisten. Die Notfallversicherten, die ich sprach, aber empfanden ihren Versicherungszustand so, als hätten sie überhaupt keine Krankenkasse. Denn die Frage, wann es sich um einen medizinischen Notfall handelt, wann Schmerzen akut sind, liegt beim Ermessen der Krankenkassen. Betroffene erzählten mir von starken Zahnschmerzen, mit denen sie zum Zahnarzt gegangen waren, ihre Schmerzen für die Kasse aber anscheinend nicht akut genug erschienen und die Patient*innen deshalb auf den Kosten sitzen blieben, damit aber noch mehr Schulden anhäuften. Ich traf eine Frau mit Depressionen, die schon seit Jahren nicht mehr behandelt wurde, weil sie sich die Medikamente nicht leisten konnte und einen Mann, der an Krebs erkrankt und dringend Chemotherapie brauchte, sie aber hätte selbst zahlen müssen, weil der Notlagentarif die Nachbehandlungen nicht mehr abdeckte. Von Sozialverbänden und Clearingstellen erfuhr ich, dass es durchaus viele Fälle gibt, bei denen den Notlagenversicherten die Arztrechnung auch bei akuten Schmerzen nicht bezahlt wurde, was de facto zu einer völligen Leistungsverweigerung führte.

Laut Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 5. Dezember 2018 (IV ZR 81/18) dürfen Krankenversicherungen die Versicherungsansprüche gegen die Beitragsschulden aufrechnen. Das aber führt zu der absurden Situation, dass der Tarif Menschen mit Beitragsschulden in einer medizinischen Notlage zwar helfen soll, aber genau diese Schulden der Grund dafür sind, dass sie keinen Arzt mehr aufsuchen können.

Ich danke Alexandra T., Helga S. und Marcel M. für ihre mutige Bereitschaft, in meinem Film mitzuwirken und damit einen Einblick zu geben, was es eigentlich bedeutet, keinen Anspruch auf medizinische Hilfe zu haben, und ich danke den Ärzt*innen und Sozialarbeiter*innen für ihr Engagement, den Betroffenen zu helfen, was oft weit über ihre ehrenamtliche Praxis hinausging. Sie organisieren Kliniken und Fachärzt*innen, um Operationen aus Spendentöpfen zu bezahlen. Und immer gibt es Posten, die gar nicht erst in Rechnung gestellt werden, auf denen sitzen geblieben wird.

In der Menschenrechtscharta steht, dass der Zugang zu medizinischer Versorgung ein Grundrecht sei. Das aber müsste meiner Meinung nach auch staatlich umgesetzt werden. Stattdessen füllen ehrenamtlich arbeitende Ärzt*innen diese Lücke im System.

Alexandra T. ist Logopädin, war zunächst angestellt und gesetzlich versichert, bis sie sich selbstständig mit eigener Praxis machte und freiwillig gesetzlich versicherte. Alexandras Praxis ging pleite, sie konnte ihre Beiträge mehr bezahlen, machte Schulden bei der Krankenkasse und landete im Notlagentarif. Im letzten Jahr meldete sie Insolvenz an, zahlt Monat für Monat ihre Schulden ab, bis ihr in fünf Jahren die  Restschuld erlassen werden wird – auch bei der Krankenkasse.

Marcel W. ist gesetzlich versichert. Er verlor seinen Job aufgrund seiner Krankheit Multipler Sklerose, wurde wohnungslos, meldete sich weder bei seiner Krankenkasse noch als arbeitslos und wurde automatisch in den freiwillig gesetzlich Versichertenstatus hochgestuft. Weil er die Beiträge nicht zahlte, sind bis heute 5000 Euro Beitragsschulden entstanden, die sich innerhalb von 4 Jahren noch einmal, allein durch die Säumniszuschläge, auf 10.000 Euro Schulden verdoppelt haben. Die Versicherung hätte ihn gleich in den Notlagentarif stufen können, hat es aber aus Kulanz nicht getan. Mittlerweile bekommt Marcel Hartz-IV. Das schützt ihn im Moment vor dem Notlagentarif, denn als „Sozialhilfeempfänger“ kann er in diesem Tarif nicht landen. Trotzdem steigen die Krankenkassenbeitragsschulden durch die Säumniszuschläge weiter, und trotzdem bekommt er Monat für Monat Mahnschreiben von der Versicherung, die ihn zur sofortigen Zahlung seiner Schulden auffordert und mit dem Notlagentarif droht.