Hamas-Angriff: Warum Araber "westliche Doppelmoral" beklagen

    Israel und der Hamas-Angriff:Warum Araber "westliche Doppelmoral" beklagen

    Golineh Atai
    von Golineh Atai
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    Arabische Vorwürfe über "westliche Doppelmoral" sind nicht neu. Doch die Heftigkeit der Kritik ist beispiellos - Diplomaten und Forscher beklagen "geopolitischen Scherbenhaufen".

    Auch knapp drei Wochen nach dem Terror der Hamas sitzt der Schock in Israel tief. Denn es handelte sich um den tödlichsten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust. Westliche Staaten stehen dabei fest an der Seite Israels - auch mit Blick auf den israelischen Einsatz in Gaza, der als Reaktion auf den Terror erfolgte.
    In arabischen Staaten sorgt das für Enttäuschung und Wut - die Menschen dort haben das Gefühl, vom Westen ungerecht behandelt zu werden. Droht eine Vertrauenskrise?

    Arabische Welt kritisiert den Westen

    "Jeder ist durch, jeder ist angefasst gerade. Diese Fernsehbilder von toten palästinensischen Babys - und zugleich eine Welt, die diese Grausamkeiten nicht sieht, nicht zeigt. Wir sind geschockt. Und wütend", sagt Shahira Amin. Die Journalistin und Forscherin am US-Thinktank Atlantic Council drückt aus, was eine große Mehrheit in der arabischen Welt derzeit fühlt und denkt über westliche Politik: "Unser Leid wird ausgeblendet bei Euch".
    Im Interview zweifeln viele gar, ob ihre Wut und Trauer überhaupt in westlichen Medien abgebildet werden dürften. Dutzende bekannte arabische Forscher und Politikberater gehen diese Woche in einem offenen Brief mit der Biden-Regierung und der EU ins Gericht. Nach der "entsetzlichen Metzelei" durch die Hamas habe die Welt zu Recht mit einer Verurteilung reagiert und mit Solidarität mit Israel, schreiben sie.
    Doch eine fortgesetzte Entmenschlichung der Palästinenser habe dazu geführt, dass zu viele westliche Regierungen eine "Kampagne der kollektiven Bestrafung von Millionen unschuldigen Palästinensern" unkritisch billigten.

    "Himmelschreiende Doppelstandards" der EU und USA

    In diplomatischen Kreisen sprechen einige von einem "Scherbenhaufen", den diese Politik der Billigung hinterlassen habe. Der Westen habe ein enormes Glaubwürdigkeitsproblem, das sich langfristig auf die Beziehungen auswirke, sagt Ägyptens ehemaliger Außenminister Nabil Fahmy.
    Er ist gerade auf Reisen in China. In Peking, sagt er, verstehe ihn jeder. Doch Europa und die USA hätten unterschiedliche Maßstäbe für arabisches und nicht-arabisches Menschenleben:

    Ihr verlangt vom globalen Süden, Russland zu verurteilen, weil es Land besetzt. Aber Ihr verurteilt nicht Israel für seine Besatzung von palästinensischem Land. Eure himmelschreienden Doppelstandards sind für jeden offensichtlich.

    Nabil Fahmy

    Das Hinnehmen von Völkerrechtsverstößen - im Rahmen des Rechts auf Selbstverteidigung - bedeute, dass der Westen an seinem eigenen Fundament säge. Ausgerechnet in einer Zeit der globalen Unordnung, in der arabisch-deutsche und arabisch-westliche Zusammenarbeit doch essenziell sei, betont Fahmy.

    Zwischen Völkerrecht und Diplomatie

    "Das Völkerrecht ist nicht optional", mahnt auch Kim Ghattas, Autorin und Nahost-Expertin Kim Ghattas in Beirut. "Es gilt nicht nur für die Feinde des Westens, wenn russische Massaker auf ukrainischem Boden geschehen. Sicher, der Kontext ist verschieden. Aber der Westen muss das internationale Recht in allen Fällen hochhalten. Denn Straflosigkeit zersetzt die liberale Weltordnung".
    Andererseits bleibt Ghattas realistisch, was die Wünsche der arabischen Öffentlichkeit angeht. Sie kennt das Denken im US-Außenministerium gut genug, um nachvollziehen zu können, dass die USA nie öffentlich auf eine Feuerpause drängen können. Sie würden sonst ihre Fähigkeit verlieren, im Stillen auf Israel ein- und gegenzuwirken, erklärt Ghattas.
    Karte zeigt das Osmanische Reich und die jüdischen Gebiete. Damals lebeten Muslime und Juden weitgehend friedlich zusammen.
    Die Karte zeigt die Region Palästina ab 1923, dass damals unter britischem Mandatsgebite stand.
    Die Karte zeigt die Gebiete des arabischen Staates und Jüdischen Staates wie es der UN-Teilungsplan 1947 vorgesehen hatte.
    Karte zeigt Israel und den Angriff der arabischen Länder nach der Gründung des Staates Israel 1948
    Die Karte zeigt die Gebiete, die Israel nach dem Krieg 1948 gewinnt.
    Karte von 1967 zeigt die Eroberungsgebiete von Israel.
    Die Karte zeigt wie sich die Siedlungen über die Jahre gewachsen sind von 1.500 im Jahr 1972 auf 465.400 im Jahr 2021.
    Die Karte zeigt die Grenzen nach dem Friedensvertrag von Oslo.
    Die Karte zeigt die Grenzgebiete von Israel, Gazastreifen, Westjordanland heute.

    Die Entstehung des Nahost-Konflikts

    Bis Anfang des 19. Jahrhunderts leben Muslime und Juden im Osmanischen Reich weitgehend friedlich zusammen. Doch in Europa werden die Juden ausgegrenzt und verfolgt ...

    Quelle:


    Abneigungen gegenüber dem Westen werden reaktiviert

    Die arabische Enttäuschung ist vielschichtig. Gefühle und Gedanken, die nach dem 11. September und nach dem Irak-Krieg über Jahre vorherrschten, werden reaktiviert.
    Es geht es nicht nur um westliche Doppelstandards - es geht auch um die Frage, warum westliche Staaten in den vergangenen Jahren dringend benötigte Initiativen für den Friedensprozess zwischen Palästinensern und Israel vernachlässigt und vergessen haben. Und ob es eine Frage der kulturellen Identität sei, welche Opfer von Kriegsverbrechen der Westen nun unterstütze und welche nicht.
    Die Initiative "Muslim Interaktiv" bei einer Kundgebung.
    Die Initiative "Muslim Interaktiv" tarnt sich mit Aufklärung über Rassismus. Doch sie gehört zu den islamistischen Gruppierungen, die dafür sorgen, dass die Gräben im Land wachsen.27.10.2023 | 13:16 min

    Auf wen kann sich die arabische Welt verlassen?

    "Sollen wir in dieser Lage nun ausgerechnet auf Russland, auf China, auf Iran vertrauen, wenn es um den Schutz von Zivilisten geht?", fragt, nicht ohne Sarkasmus, der ägyptische Menschenrechtler Hossam Bahgat. Gerade von Deutschland fühlt er sich entfremdet und fragt sich, warum die deutsche Außenministerin in der EU eine sofortige humanitäre Feuerpause verhindert habe. Ihr Verhalten könne einen massiven Flurschaden in der Region bewirken, fürchtet er.
    Der palästinensische Historiker Yezid Sayigh, der mehr als zehn Jahre in der palästinensischen Delegation mit Israel über den Friedensprozess verhandelte, schlägt in die gleiche Kerbe.

    Im Moment sehe ich, wie die USA, die EU und einzelne europäische Regierungen mit ihrer Haltung die internationale, regelbasierte Ordnung zerschlagen.

    Yezid Sayigh

    Arabische Medien: Leid Israels wird ausgeblendet

    Zivilisten im Nahen und Mittleren Osten seien daher nicht nur Opfer ihrer eigenen Regime und Terrorgruppen, sondern auch Opfer des westlichen Hinwegsehens. Es wird genau registriert, wie ein Sprecher des Weißen Hauses mit fast tränenerstickter Stimme über israelische Opfer spricht - und wie er palästinensische Opfer lediglich als "Teil des Krieges" wahrnimmt.
    Zwei unterschiedliche Wahrnehmungen. Zwei unterschiedliche Realitäten. Die Kluft zwischen Westen und arabische Welt hat sich gefährlich weit geöffnet. Die Kehrseite des Vorwurfs über "mangelnde Empathie": So sehr die arabische Öffentlichkeit beklagt, dass palästinensisches Leid nicht gesehen wird - in ihren eigenen Fernsehkanälen und Medien hat sie das Leid der israelischen Opfer der Hamas vollständig ausgeblendet.

    Israel und Gaza
    :Rückblick: Eskalation in Nahost

    Mit dem Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel ist der Nahost-Konflikt eskaliert. Israel greift infolge der Terrorattacke Ziele im Gazastreifen an. Ein Rückblick.
    Demonstranten mit Plakaten, darunter eines mit der Geisel Noa Argamani

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